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Kasuistik: Schmerztherapie für geriatrischen Alzheimerpatienten

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Herr U.L., 86 Jahre, leidet seit sieben Jahren an Alzheimer-Demenz und hat seit mehr als 20 Jahren arthrotische Veränderungen der Gelenke des rechten Beines (Hüfte, Knie, Sprunggelenk). In den letzten Tagen zieht sich Herr L. zunehmend von sozialen Aktivitäten zurück, die sein Seniorenheim anbietet und an denen er trotz seiner Demenz bis vor einigen Wochen gern teilnahm, und bleibt vorwiegend in seinem Lehnstuhl im Zimmer sitzen. Auf die nötige Hilfe zum Waschen und Umkleiden reagiert er zunehmend abweisend, und es fällt auf, dass er sein rechtes Bein möglichst wenig belastet. Mithilfe der BESD-Skala kann objektiv ein akuter Schmerzzustand festgestellt werden.

Seine Medikation umfasst aktuell Mianserin 10mg 1-1-1-1, Zopiclon 3,75mg 0-0-0-1 und Donepezil 10mg 0-0-0-1.

Eine analgetische Therapie soll mit dem Ziel einer möglichst schnellen Schmerzreduktion begonnen werden, damit Herr L. nicht in die Abwärtsspirale aus Schmerz, Rückzug, Depression gerät. Es ist zu erwarten, dass eine langfristige Analgesie notwendig sein wird.

Nichtsteroidale Analgetika hat Herr L. in der Vergangenheit nicht gut vertragen und nach wenigen Tagen ihrer Einnahme regelmäßig Magenschmerzen bekommen.

Fragestellung

Welche Optionen zur Analgesie bleiben für den verordnenden Arzt, um Herrn L. angesichts seines Alters, seiner Erkrankungen und des Therapieziels zu behandeln?

(Nebenbei gefragt: Welche physiologischen und funktionellen Unterschiede müssen bei Senioren im Vergleich zu Erwachsenen mittleren Alters beachtet werden?*)

Clinical Reasoning

Klassische NSAR entfallen wegen der Verträglichkeitsprobleme, zumal Mianserin die gastrointestinalen unerwünschten NSAR-Wirkungen noch verstärken kann. Außerdem zählen NSAR-Nebenwirkungen bei geriatrischen Patienten zu den häufigsten Gründen für Krankenhauseinweisungen, weshalb diese Stoffgruppe generell als im Alter riskant einzustufen ist [1].

Paracetamol, Metamizol und Coxibe sind Optionen aus der nicht-opioiden Stoffgruppe, deren Einsatz abgewogen werden kann. Hinsichtlich der Wirksamkeit ist Paracetamol den NSAR jedoch unterlegen [2], Metamizol muss wegen der kurzen Halbwertszeit seiner aktiven Form (4-Methylaminoantipyrin; HWZ ca. 3Std) 3-4-mal täglich gegeben werden und ist daher für eine evtl. notwendige längerfristige Therapie weniger praktisch. Coxibe haben vermutlich weniger gastrointestinale Nebenwirkungen als die meisten klassischen NSAR [3], auf gastrointestinale Komplikationen wird aber in der Fachinfo trotzdem hingewiesen, müsste also im Blick behalten werden.

Hinsichtlich des Therapiezieles, möglichst schnell eine effektive Schmerzlinderung zu erzielen, liegt der Einsatz eines Opioids nahe. Als schwache Opioide sind Tramadol und Tilidin/Naloxon einsetzbar. Tilidin/Naloxon hat den Vorteil, weniger Atemdepression, Schwindel und Sedierung hervorzurufen als Tramadol, nachteilig ist die kurze Halbwertszeit, derentwegen es häufiger gegeben werden muss.

Die AGS-Leitlinie empfiehlt als starke Opioide Oxycodon, Morphin und Hydromorphon [4]. (Nebenbei gefragt: Woher nehmen Leitlinien eigentlich ihre Empfehlungen?*)

Weitere Optionen sind Buprenorphin und Fentanyl [5] oder Tapentadol [6]. Methadon ist wegen der großen pharmakokinetisch bedingten interindividuellen Variabilität gerade bei älteren Personen nicht erste Wahl [5].

Eine Opioidtherapie sollte nicht mit Pflastern, sondern oral begonnen werden bis die Dosis feststeht, danach sollte eine Umstellung auf Präparate mit protrahierter Freisetzung erfolgen[4].

Die Atemdepression mit der möglichen Komplikation einer Pneumonie steht bei älteren Patienten als unerwünschte Wirkung im Vordergrund, während die Abhängigkeit weniger ins Gewicht fällt, vorausgesetzt es besteht keine Vorgeschichte mit Substanzabhängigkeit [4]. Zu Beginn der Therapie müssen bei älteren Menschen neben der Übelkeit vor allem auch Schwindel und Sedierung als potenzielle Sturzursachen beachtet werden. Eine fortgesetzte Obstipationsprophylaxe ist selbstverständlich auch im höheren Lebensalter von Bedeutung.

Laborwerte

Nieren- und Lebererkrankungen sind ein weitere Aspekt für die Auswahl des optimalen Wirkstoffs und der angemessenen Dosis, sind aber bei Herrn L. nicht bekannt. Trotzdem sollte nachgefragt werden, ob es ausreichend aktuelle Laborwerte für diese Organfunktionen gibt. (Nebenbei gefragt: welche wären das eigentlich?*)

Falls nicht, wäre eine Bestimmung auch angesichts der bestehenden Medikation wünschenswert, denn Mianserin kann Blutbildveränderungen, beide Wirkstoffe können Leberfunktionsstörungen hervorrufen.

* Die eingestreuten Fragen sind als „Selbst-Check“ gedacht. Sollten Sie bei der Beantwortung unsicher sein, sehen Sie sich doch mal in unserem Seminarangebot um.

 Quellen:

[1] Franceschi M, Scarcelli C, Niro V et al.: Prevalence, clinical features and avoidability of adverse drug reactions as cause of admission to a geriatric unit: a prospective study of 1756 patients. Drug Saf (2008); 31:545–556
[2] Towheed TE et al.: Acetaminophen for osteoarthritis. Cochrane Database Syst Rev (2006); 1:CD004257
[3] Castellsague J et al.: Individual NSAIDs and upper gastrointestinal complications: a systematic review and meta-analysis of observational studies (the SOS project). Drug Saf (2012); 1; 35(12):1127-46
[4] American Geriatric Society Panel: Pharmacologic Management of Persistent Pain in Older Persons, 2009
[5] van Ojik AL et al.: Treatment of chronic pain in older people: evidence-based choice of strong-acting opioids. Drugs Aging (2012) 1;29(8):615-25
[6] Atkinson TJ et al.: Medication Pain Management in the Elderly: Unique and Underutilized Analgesic Treatment Options. Clin Ther (2013) 35(11):1669-89

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