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Deprescribing: Gegen den Strom

© Leigh Prather | stock.adobe.com
Die Haltung niedergelassener Ärzte gegenüber dem Deprescribing bei Patienten mit Polymedikation hat kürzlich eine Arbeitsgruppe der Universität von Auckland in semi-strukturierten Interviews untersucht [1]. Die in den Antworten der befragten Ärzte genannten Einflussfaktoren auf das Verordnungverhalten teilen die Autoren in drei Gruppen ein: 1. soziokulturelle, 2. persönliche und 3. systemorganisatorische Faktoren.
Unter die soziokulturellen Faktoren fallen Annahmen zur Erwartungshaltung von Patienten und Aspekte der Verordnungspraxis:

  • „Patienten erwarten von uns Ärzten, dass sie für ihre medizinischen Probleme ein Arzneimittel verordnet bekommen.“
  • „Es ist einfacher, immer neue Medikamente anzusetzen, als die Notwendigkeit der bestehenden Medikation zu überprüfen.“
  • „Für das Verordnen gibt es Kurse, für das Absetzen von Arzneimitteln nicht.“

Im Feld der persönlichen und Beziehungsfaktoren wurden Unsicherheit, Sorge vor unerwünschten Wirkungen des Absetzens, Sorge vor einer Verschlechterung des Verhältnisses zu Patienten und anderen Ärzten und Datenmangel genannt:

  • „Wir wissen nicht, welches zusätzliche Risiko die Kombination mehrerer Erkrankungen und Medikationen hervorruft.“
  •  „Man könnte als nachlässig, als schlechter Arzt, als inkompetent betrachtet werden, wenn man etwas absetzt und dann etwas passiert“, z.B. „ein Herzinfarkt, nachdem das Statin abgesetzt wurde.“
  • „Man setzt mehr an als man möchte, aber es ist schwierig, von den Leitlinien abzuweichen.“
  • „Wir brauchen mehr Forschung und mehr Zusammenarbeit auf dem Gebiet“ und „mehr Fortbildungen, um sicherer zu werden“.
  • „Es könnte so aussehen als habe man den Patienten aufgegeben – Sie werden ohnehin bald sterben, da helfen jetzt auch die Tabletten nicht mehr.“
  • „Es ist schwierig, etwas abzusetzen, das gerade erst angesetzt wurde, z.B. im Krankenhaus“ oder „vom Facharzt, von dem man annimmt, dass er besser Bescheid weiß als man selbst.“

Unter die systemorganisatorischen Faktoren fallen Zeitmangel, Abrechnungsfragen, Leitlinien und Computer-basierte Entscheidungs’hilfen‘, der Informationsfluss an Schnittstellen:

  • „Das sind komplexe Fälle, dafür ist einfach keine Zeit.“
  • „Bei Folgeverordnungen sieht man den Patienten gar nicht jedes Mal.“
  • „Man muss die Zeit, die man mit dem Patienten nicht wegen konkreter medizinischer Probleme, sondern mit der Verbesserung des Arzneimittelmanagements verbringt, bezahlt bekommen.“
  • „Abzusetzende Arzneimittel müssten im Computer angezeigt werden, dann könnte man dem Patienten sagen: ‚ich sehe hier, dass Sie zuviele Medikamente bekommen, schauen wir doch mal, was wir streichen können‚.“
  • Ich kenne ja nur einen Teil der Patientenhistorie. Vielleicht wurde ja schon versucht, was abzusetzen, und das musste wieder neu gestartet werden.“
  • „Ich würde gern einfach einen Fachkollegen anrufen und um Rat fragen. Oft emaile ich an einen Apotheker.“
  • „Leitlinien empfehlen immer nur, das Ansetzen.“ „Wir brauchen in jeder Leitlinie einen Absatz, unter welchen Bedingungen was abgesetzt werden soll.“ „Wir brauchen Leitlinien zur Multimorbidität, z.B. für Patienten, die chronische arthritische Schmerzen, Herzinsuffizeinz und Diabetes gleichzeitig haben.“
  • „Mit Patienten über Risiken zu sprechen, ist sehr schwierig.“
  • „Es würde die Sache erleichtern, wenn Patienten z.B. einmal jährlich eine Nachricht bekämen wie ‚Wenn Sie nächstes Mal beim Arzt sind, lassen Sie Ihre Medikation überprüfen‚.“

Einer der interviewten Ärzte erwähnte die App „MedStopper“. Sie hier verfügbar.
Die Antworten zeigen, wie schwierig es sein kann, Maßnahmen umzusetzen, von denen man grundsätzlich weiß, dass sie richtig sind. Sie zeigen auch, wie schwierig es ist, eine konkrete Entscheidung zu treffen, wenn sich die Folge nicht exakt einschätzen lässt – ganz besonders, wenn man dafür gewohnte Fahrwasser verlassen und sich evtl. sogar gegen die Erwartung anderer stellen muss.
So kann es sich auch bei der Beratung von Patienten in der Apotheke anfühlen. Gut zu wissen, dass es nicht nur uns so geht, oder?
Mit besten Grüßen
Dorothee Dartsch

Quelle

KA Wallis et al: Swimming Against the Tide: Primary Care Physicians’ Views on Deprescribing in Everyday Practice. Ann Fam Med 2017;15:341-34

Bild: © Leigh Prather / Fotolia

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